Leseprobe aus dem Roman »Schalksknecht – ein Wortfries«
zur Individualgeschichte einiger unbedeutender Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts
Erschienen 2009 bei edition-bodoni
Das Handlungsgerüst
Beginnend mit dem böhmischen Flickschuster und Scherenschleifer Jan Wenzel Podrek, der ein Luckenwalder Dienstmädchen heiratet, treibt eine Abfolge von Menschen aus dieser Familie auf der Suche nach Lebensertrag durch die deutsche Geschichte von 1848 bis 2000. Paul und Charlotte Prodek, die Hauptfiguren dieses romanesken Wortfrieses, bauen ihr Glück wissentlich auf dem Verderben eines anderen Menschen auf. Sie behaupten ihr Wohlergehen und Glücklichsein dank ihrer individuellen Vernunft lange Zeit gegen die kollektive Unvernunft des Landes. Die eigene Schuld macht Paul nicht nachsichtig gegenüber fremder Schuld. Seine Vernunft bewahrt Ihn trotz Sträubens weder vor dem Mitmachen im kollektiven Wahn noch vor privater Rachsucht. Das grauenvolle Ende des Paares beim Vormarsch der Russen auf Berlin 1945 ist kein Scheitern, weil sie es suchen. Sie wollen sich über Chaos und Elend erheben, indem sie sich ihm ausliefern, statt zu fliehen. Ihre Nachkommen erleben bessere Tage, einige große berufliche Erfolge, aber ihr Leben bleibt vergleichsweise blass.
Die Sprach-, Text- und Szenengemenge, der Zeitverschnitt der Handlung entsprechen den Verwirbelungen von Unheil, Glück, Verdienst, Schuld und Hilflosigkeit in der Lebenswirklichkeit der auftretenden Personen.
Weiter
Bevor er zum Polizeirevier geht, sucht Paul nach Charlotte. Sie ist nicht mehr in der Praxis. Sie wird bei ihren Eltern sein. Wieder steht er vor einer Tür und klingelt. Neugierige starren von überall her hinter den Gardinen vor. Charlottes Vater, schon nicht mehr im Frack, sondern im grauen Zweireiher mit Weste schaut heraus. Er schließt wortlos das Fenster. Paul wartet. Endlich wird ihm geöffnet. Es ist das Dienstmädchen. „Wo ist meine Frau?“ „Sie erwartet Sie oben in ihrem Zimmer.“
„Paolusso!“ Charlotte läuft die Treppe hinunter. Sie trägt noch ihr Brautkleid. Der rechte Ärmel ist abgetrennt. Der Oberarm dick verbunden. Der Unterarm liegt frei. Ihn schmückt eine feine goldene Uhr. Der Trauring mit dem Diamanten glänzt am Finger. „Wie geht es dir, Minga?“ „Es brennt fürchterlich. Ist aber nicht gefährlich, sagt Dr. Möschele. Ich brauche nicht ins Spital. In ein paar Tagen wird die Wunde verheilt sein, meint er. Es müsste ohne Fieber abgehen. Vielleicht etwas Temperatur. Eine Narbe wird es geben.“ „Ich möchte am liebsten gleich bei dir bleiben, Minga. Aber ich muss zur Polizei, meine Aussage machen. Ich habe es dem Wachtmeister, der zu Katjas Mutter kam, zugesichert. Ich möchte nicht, dass sie nach mir suchen. Sei mir nicht böse, wenn ich anschließend kurz bei meinen Eltern vorbeischaue, nur damit sie Bescheid wissen. Ich komme dann sofort zurück.“ „Ich warte. Du warst großartig. Du hast mir an unserem Hochzeitstag das Leben gerettet.“ „Um den Preis eines anderen Lebens, Minga. Wahrscheinlich zweier. Ich habe einfach getan, was zu tun war – es war wenig und schlecht. Ich hätte ihren Arm greifen müssen, statt ihn wegzuschlagen, dann wäre sie nicht gestürzt.“
„Pauletto, was machst du dir für dumme Vorwürfe. Geh jetzt. Ich warte auf dich. Bleib ruhig. So wie du vorhin warst. Es wird alles wieder. Wir kommen da durch.“
Zwei Stunden später ist er zurück. Nass, denn es regnet wieder heftig.
„Möchtest du etwas essen? Lena kann Suppe und Braten bringen.“
„Eine Kanne Tee reicht.“
„Wollen wir in unser Haus gehen, wie es nach der Feier geplant war?“
„Nein, lass uns noch hier bleiben. Wir müssen erst mit uns ins Reine kommen. Vorher möchte ich nicht unser Haus betreten. Hast du wirklich nicht zu große Schmerzen, Minga? Möchtest du schlafen?“
„Ich stehe das mühelos durch. Ich denke jetzt daran, was wir gerade tun würden, wenn alles normal weiter gegangen wäre.“ Weiter – ein schreckliches Wort. Immer geht es irgendwie weiter im Leben. Mir ist zum Erbrechen. Für Katja ist es vorbei. Katjas Leben war schön. Weil sie an uns geglaubt hat. An mich. Bis es nicht mehr ging. Das Ende war schlimm. Vier böse Monate von 22 Jahren, die schön waren, seit wir uns als Kinder liebten. „Wo ist dein Myrtenstrauß?“
„In meiner Hosentasche.“
„Denn im Tod fragt man nicht, wielange einer gelebt hat.“ (Jesus Sirach)
„Paolusso, ich wollte dir heute Nacht etwas sagen. Etwas Schönes. Nach all dem Trubel, den es gegeben hätte. Ich sage es dir jetzt. Es ist das einzig Richtige, es jetzt gleich zu tun.“
„Was, Minga?“
„Ich bekomme ein Kind, Paolussu!“
Pauls Gesicht verkrampft sich. Die Gaslampe im Raum rauscht und flackert. Es ist fürchterlich still, als sie den Satz ausgesprochen hat. Auf keinen Fall freuen. Ich darf mich nicht freuen. Ich darf mich nicht freuen. Ich verbiete es mir. Er schließt die Augen, presst die Lider herunter. Wie früher, wenn ihn der Vater schlug.
„Du hättest einige Tage warten sollen, es mir zu sagen. Ich müsste vor Freude aufschreien. Dich umarmen. Ich kann es nicht. Die Nachricht macht mich trauriger, als ich schon bin. Sie kommt an dem Tag, an dem ich zum Mörder wurde.“
„An dem du einen Mord verhindert hast. Vielleicht einen Doppelmord.“
„Seit wann weißt du es?“
„Seit drei Wochen. Ich wollte dich in der Hochzeitsnacht damit überraschen. Alles andere haben wir ja vorweggenommen.“
„Dann ist es kein Kind unserer ersten Nacht.“
„Nein. Leider nicht. Da wären es mindestens Drillinge, eher noch Fünflinge geworden. Und man sähe es auch als Einling schon. Ich glaube, es ist passiert, als wir die Schaukel im Garten unseres Hauses ausprobierten. Die Mieter hatten sie für ihre Kinder hingestellt, und sie hat uns gefallen. Meine Mutter hat sie ihnen abgekauft.“
Er lächelt gegen seinen Willen. Auf dem Weg hierher hatte er daran gedacht, sie zu verlassen und allein nach Afrika zu gehen. Um sie beide zu bestrafen. Sie vielleicht später einmal nach zu holen. Vielleicht. Wie können wir je glücklich werden, nachdem ein Mensch wegen uns gestorben ist? Von meiner Hand erschlagen. Allein nach Afrika – das geht nun nicht mehr. Ich darf nicht das Kind bestrafen.
„Als ich sagte, wir müssen erst mit uns ins Reine kommen, meinte ich etwas ganz Bestimmtes.“ Er schaut sie prüfend an. Ihre Miene bedeutet ihm, dass er alles sagen soll, was ihn bewegt. „Ich werde morgen einen Kredit aufnehmen, um Katja so zu bestatten, wie sie es verdient.“
Sie senkt den Kopf. „Daran habe ich jetzt nicht gedacht. Wieso einen Kredit aufnehmen?“
„Weil es meine persönliche Angelegenheit ist. Ich will ihr wenigstens im Tode treu bleiben.“
„Du bereust also, dass du dich für mich entschieden hast?“
„Ich bereue, dass ich mich gegen sie entschieden habe, nicht dass ich mich für dich entschieden habe. Verstehe das, wie du willst. Ich verstehe es.“ Er schluckt. Blickt aus dem Fenster ins Dunkle und geht dann im Zimmer hin und her. „Ich hätte allein nach Afrika gehen sollen.“
„Dann hättest du zwei Menschen unglücklich gemacht.“
„Wäre es nicht gerechter gewesen? Und ihr hättet mich beide nach einiger Zeit vergessen.“
„Was redest du für einen Unsinn? Du weißt, dass es nicht stimmt. Meinst du wirklich, sie hat mich aus reiner Eifersucht töten wollen, nicht, weil sie dich liebte und ein Leben ohne eure Liebe nicht ertragen konnte? Sie wusste, du wärst ihr nach erfolgreicher Tat treu geblieben und hättest alles versucht, sie aus dem Gefängnis zu bekommen. Gib es zu, dass du ihr treu geblieben wärst! So wie du ihr jetzt treu bleibst. Im Tod. Meinst du, ich hätte dich ihr nur aus Selbstsucht weggenommen und nicht, weil ich dich über alles in der Welt liebe? Weil ich dich glücklich machen werde? Schätzt du uns zwei Frauen so gering ein? Ist das deine Gerechtigkeit? Ich jedenfalls wäre dir gefolgt.“
„Und hättest deine Eltern aufgegeben? Du hast mir gesagt, das ginge nicht.“
„Wenn du mich gezwungen hättest, hätte ich selbst das getan.“
„Und wenn ich dich auch in Afrika nicht gewollt hätte? Du hast mir in der ersten Nacht gesagt, wenn ich dich sitzen ließe und du kriegtest ein Kind von mir, wärst du auch zufrieden.“
„Da wusste ich bereits, dass es anders kommen würde.“
„Sieh an. Du wolltest mich also beeindrucken. Nichts weiter. Wie soll ich dir in Zukunft etwas glauben?“
„Du verstehst mich falsch. Die Situation wäre mir lieber gewesen, als dich nie getroffen zu haben. Aber ich hätte weiter um dich gekämpft. – Pauletto, lass das Grübeln. Es führt zu nichts. Merkst du es nicht? Das Schicksal hat entschieden. Katja wollte meinen Tod, weil ich dich liebe. Sie wollte die Einzige bleiben, die dich über alles liebt. Meine Antwort darauf kann nur sein, dich und das Leben, das ich dir verdanke, desto mehr zu lieben. Meine Liebe zu dir, um ihre Liebe zu dir zu vergrößern.“
Für einen Augenblick schießt Paul der Gedanke durch den Kopf, ob es nicht am besten gewesen wäre, wenn der Stich gelungen, Charlotte tot und Katja ins Gefängnis gekommen wäre. Röte schießt ihm ins Gesicht. Er verscheucht den frevelhaften Gedanken. Er muss sich krümmen. Was hat sie eben gesagt? Etwas Ungeheuerliches. „Es ist frivol und grausam, was du sagst. Seelischer Kannibalismus. Ich will Katja würdig bestatten, du frisst ihre Gefühle auf und willst daran fett werden. Tust dabei, als sei es in ihrem Sinne.“
„Wir könnten uns jetzt beide umbringen, Paul. Unser Kind dazu. Weil unser beider Gefühle Katja unerträglich wurden. Wärst du zufrieden, wenn wir beide, wir drei, Katja nachfolgten? Ich bin bereit dazu, wenn du es verlangst. Ich zahle auch diesen letzten Preis, wenn es sein muss, für unsere Liebe. Aber ich sage dir auch, dass es das unabänderliche Gesetz des Lebens ist: Was dem einen verloren geht, wächst dem anderen zu.“
„Du machst mir Angst, wenn du so sprichst. Unsere Gefühle….Was ist das überhaupt? Einbildung. Gelumpe. Nichtswürdig.“
„Das Leben ist grausam. – Nicht wir.“
„So sagen sie alle. ‚Über Gräber vorwärts’ habe ich einmal auf einem Grabstein gelesen. Wer bist du? Wer bin ich? Ich weiß es nicht.“ Paul hört nicht auf, wie im Käfig hin und her zu laufen. Ganz plötzlich, bleibt er stehen, rast los. Gegen die Wand. Das Haus bebt. Er schlägt mit Kopf und Fäusten gegen die Wand. Ebenso plötzlich dreht er sich um.
„Es bleibt bei meiner Entscheidung: Ich nehme den Kredit auf, um Katja so zu bestatten, wie ich es für richtig halte. Ich tue es allein.“
„Paolusso, du weißt, ich mag nichts Trennendes zwischen uns. Ich möchte, dass wir alles teilen. Alles. Auch die Fürsorge für die tote Katja und ihre Mutter. Es ist unsere gemeinsame Schuld. Aber wenn du bei deiner Entscheidung bleibst, werde ich sie achten.“
„Danke, Minga. Lass uns gehen. Es bleibt bei meinem Entschluss.“
Charlottes Eltern sitzen sich schweigend im Wohnzimmer gegenüber. Die Gläser Tee, die vor ihnen auf dem Tisch stehen, haben sie nicht angerührt. Sie wagen einander nicht zu sagen, woran sie denken. Berthold Werthland weiß jetzt endgültig: An dieser Frau klebt es rabenschwarz. Sie zieht ihre Männer ins Unheil. Hätte ich sie bloß nicht geheiratet. Meine verdammte Eitelkeit. Eine Prachtfrau. Er geht die finanziellen Folgen der Bluttat auf der Hochzeit seiner Tochter durch. Noch monatelang wird das Ereignis das Stadtgespräch Nr.1 in Luckenwalde sein. Es werden Neugierige in meinen Laden kommen, um irgendetwas zu kaufen, nur weil sie sehen wollen, wie das Leben bei uns weitergeht. Aus Schadenfreude. Das bringt nicht viel. Die kaufen eine Packung der billigsten Zigarillos, womöglich bloß eine Schachtel Streichhölzer. Aber mit dem Börschen, meinem Rauchsalon, ist es aus. Für Jahre. Der Name Werthland, mein guter alter Name, wird Befangenheit, peinliche Erinnerungen auslösen. Wer will in den Räumen eines Unglücklichen, des Opfers einer Eifersuchtstragödie, über riskante Geschäfte, Affären mit Weibern, die kultiviertesten Marienbader Spiegelbordelle, über Favoriten und Außenseiter beim Rennen in Hoppegarten oder Klein-Flottbek sprechen? Nicht einmal über Politik werden sie bei mir mehr witzeln wollen. Womöglich kündigen mir die Damen in Jüterbog ihre Aufträge. Sie möchten nicht dauernd daran denken, wie schnell ein Verhältnis ins Tragische drehen kann. Ich muss meine Freunde bitten, weiter ins Börschen zu kommen. Es muss weiter Betrieb an den Tischen herrschen. In meinem Geschäft ist kein Blut geflossen. Meine Freunde müssen für mich sprechen. Andere zu mir einladen. ‚Wir lassen Berthold nicht im Stich.’- Davor kommt die Häme. Oh ja. ‚Unsere waren ihr ja nicht stramm genug.’ Was kann ich für eine närrische, mannstolle Tochter, die ihr Leben verdirbt? Das Börschen bringt 50% meines Umsatzes. Nicht auszudenken, wenn es leer steht. Den Wein für die Hochzeitsfeier kann ich einlagern. Im Geschäft kann ich ihn nicht anbieten. Jeder wird wissen, woher er stammt, denn Wein schenke ich nicht aus. Ich werde ihn unter der Hand verkaufen oder in einer Nachbarstadt ausbieten. Das kompensiert ein wenig die kommenden Verluste. Vom Vierseithof werde ich nicht die vollen Kosten für die Bewirtung der Hochzeitsgäste akzeptieren. Der Wirt muss mir 40 % Abschlag machen, denn einen Teil der Speisen und Getränke kann er anderweitig verwenden. Da bleibe ich hart.
Auguste Werthland hört die unruhigen Schritte ihres Schwiegersohnes im Obergeschoss. Hoffentlich geschieht nichts, was sie auseinander bringt, denkt sie bei jedem Pulsschlag. Sie zittert leise, möchte beten. Kann es nicht. Sie weiß nicht, dass Charlotte ein Kind erwartet. Wüsste sie es, wäre sie ruhiger. Sie fragt sich, ob die beiden schon zusammen geschlafen haben. Die Vorstellung erregt sie. Sie spürt, wie bei der Vorstellung vom obligatorischen Liebesakt der beiden heute Nacht – allem zum Trotz – eine Stelle unter ihrem Rock feucht wird, die sie für abgestorben hielt. Charlotte hat nie viel mit mir gesprochen über ihre Ansichten, Gefühle, Unternehmungen. Ich brauchte sie nicht zu erziehen. sie wusste immer, was sie zu tun und zu lassen hatte. Nur bei ihrer ersten Blutung stürzte sie aufgeregt ins Wohnzimmer und rief: ‚Mama, Papa, ich krieg ein Kind! Ich bin ein Wunder. Ich krieg es ohne Hochzeit.’ Da habe ich sie beruhigt, in die Arme genommen, was sie nie mochte, und ihr erklärt, was es war. So gut ich es selber wusste. Über Paul hat sie besonders wenig erzählt. Nicht mehr, als unbedingt nötig. Kämen die beiden doch endlich herunter! Sie zuckt zusammen, als Wände und Decken unter Pauls Anrennen und Schlägen beben. Sie ruft „Berthold!“ Hält erschrocken die Hand vor den Mund. Werthland lauscht ängstlich. Bloß nicht noch Blut im Hause! Dann ist es ganz aus. Die Eheleute verharren regungslos. Es wird still. Unheimlich still.
Als Paul und Charlotte herunterkommen, um sich zu verabschieden, hält es Auguste nicht länger. Sie springt auf, sobald es an der Tür geklopft hat. Sie umarmt ihre Tochter, hastig, dann lange Paul. Sie drückt ihn an sich. Paul gefällt es. Sie ist immer noch eine sehr schöne Frau. Eine Warmblüterin. Sie gefällt mir. „Ach, Kinder, ich bin so froh, euch zu sehen! Nach all dem Schrecklichen, das wir durchgemacht haben. Wollt ihr etwas mit uns zusammen trinken?“
„Danke, Mutter. Wir möchten uns verabschieden, um uns in dein wunderbares Hochzeitsgeschenk zurückzuziehen. In unser Haus. Wie es sich für zwei Frischvermählte gehört.“ Paul schaut Charlotte in gestellter Heiterkeit an.
„Kinder, ich möchte euch nach all dem, das vorgefallen ist, gerne verwöhnen. Darf ich morgen früh zu euch rüberkommen, das Frühstück machen und ans Bett bringen? So gegen 10 Uhr. Ich klopfe natürlich an, bevor ich in euer Schlafzimmer komme. Ich wäre so glücklich, wenn ihr einverstanden wärt.“
Paul ahnt, dass Charlotte den Wunsch nach einer diplomatischen Pause abschlagen wird. Er nutzt die Gelegenheit, um ihr zuvorzukommen: „Es tut wohl, wie du in diesem Unglück zu uns stehst, Mutter. Gerne. So sind wir morgen früh nicht ganz allein. Es ist dir doch recht, Minga?“
„Wenn es dir gefällt, soll es mir recht sein. Bis morgen also, Mama. Gute Nacht, Papa.“ Paul ist zu nachsichtig. So geht das nicht. Und Mama hat einen Schlüssel behalten. Den muss sie morgen rausrücken und versprechen, keinen nachzumachen. Sonst gibt es Zunder.
Berthold Werthland knurrt „Gute Nacht“ zwischen den Zähnen hervor und bleibt in seinem Sessel sitzen. Auguste Werthland seufzt. Wie soll das an den Festtagen werden, die bevorstehen? Ich hatte mich so auf das Weihnachtessen und den Silvesterpunsch im großen Kreis gefreut. Zum ersten Mal seit vielen Jahren. Die Trompeten vom Kirchturm hätten wieder jubelnd geklungen, nicht peinlich wie all die Jahre.
Sie gehen durch dichten Regen. Kaum jemand ist auf der Straße. Es ist ihnen recht.
„Du musst mich jetzt über die Schwelle tragen.“
„ Können wir darauf nicht verzichten?“
„Meiner Mutter erfüllst du jeden Wunsch, kaum dass sie ihn ausspricht.“
„Sie hat viel für uns getan, Minga. Sie hat im Leben schwere Schicksalsschläge erlitten. Es ist nicht gegen dich gerichtet, wenn ich es nicht möchte. Du weißt, ich habe heute eine Tote in meinen Armen gehalten.“
Charlotte seufzt. „Ich verstehe. Du tust es nicht – mir zuliebe.“
„Minga, quäl mich nicht.“
Im Schlafzimmer legt sie sich im Bademantel ins Bett. „Das ist wärmer und sicherer für den verletzten Arm als das Nachthemd, falls er noch einmal bluten sollte.“ Sie dreht sich auf den Bauch, versteckt das Gesicht im Kissen. Paul weiß, was es bedeutet. Er hebt die Bettdecke hoch und schiebt den Bademantel nach oben bis über ihre Schultern. Die schwingenden Formen, das Muttermal in der Rückenhöhlung. Er legt seinen Kopf hinein. Horcht. Hört das unregelmäßige Gluggern in ihrem Bauch. Dadrin schwimmt eine Kaulquappe. Von mir gemacht, nicht bloß aus dem Teich gefischt. Wenn sie groß genug ist und ausgegossen wird in die Welt, wird sie schreien. Sie hat recht. Zu seinem Entsetzen schwillt der Pimm an. Er erhebt sich, legt sich über sie, drückt seine Hände an ihre lockenden Schenkel und seine Nase in ihr duftiges Haar. Bohrt sich in sie hinein, stößt rasend zu. Minga!