Erzählungen

Vor und nach Bellinzona

Seit die Seuchen besiegt sind, plagen uns Volkskrankheiten. Griesgram hat den Schrecken abgelöst. Doch Urängste zu wecken, ist leicht: Vogel- und Schweinegrippen branden serienmäßig auf in den Medien. Sterbende Schwäne auf Rügen flattern mit letzter Kraft in die Wohnstuben. Zehntausende gekeulter Schweine in Ägypten stapeln sich als Opfer eines alten religiösen Konflikts, bevor sie vor unseren Bildschirmaugen in Rauch aufgehen. Andere werden laut quiekend vergraben. Wir leiden derweil an Rückenschmerzen, Wadenkrämpfen in der Nacht, Fett- und Magersucht, Verstopfung, Gedächtnisstörungen  und vor allem – Depressionen.

Ich bin kein Mediziner, habe von Ärzten nie viel gehalten. Weil ich immer daran denken muss, wer aus meiner Klasse Arzt geworden ist, beäuge ich jedes Praxisschild mit Misstrauen und mache einen Bogen darum; aber ein Mittel gegen Depressionen wüsste ich wohl für den, der’s braucht und sucht. Seit Abenteuerreisen nach Feuerland und in die Mongolei junge Intensivtäter sozialisieren helfen, hab ich keine Scheu, es den Krankenkassen anzuraten – nicht obwohl, sondern weil sie gebeutelt sind: Eine Bahnfahrkarte Zweiter Klasse von Zürich nach Mailand. Wem die nicht hilft, dessen Behandlung sollte man als hoffnungslos einstellen und Kosten sparen. Den Glacier-Express oder andere Anti-Depressiva braucht man erst gar nicht mehr zu versuchen.

Es sind nicht einfach Bilderbuchlandschaften, die am entzückten Auge Meter für Meter vorbeiziehen, kaum dass der Zug angefahren ist, die Stank und Lärm der Mitreisenden wegzaubern. Hier haben die vier klassischen Elemente der Griechen Frieden miteinander geschlossen – und mit dem Menschen dazu. Und er scheint – unglaublich – die Schönheit der Natur zu achten.  Wie oft bin ich nicht von ernsthaften Dichterinnen wegen meiner Vernünftelei als Ökonomist abgetan worden – aber ich stehe dazu, versinke darüber nicht in Depressionen. Sie haben recht. Und deshalb hüpfte mir das Herz nicht nur beim Schauen, sondern  weil ich zugleich daran dachte,  dass ich nur den Fahrpreis bezahlt hatte, während das wunderbare Draußen sich mir ganz kostenlos darbot. Führe ich von Wanne-Eikel nach Gernersried, bezahlte ich ebenso viel, ohne dass mir so wohlig dabei würde, als läge ich mit Sigrid im Bett. Besonders in den langen Tunneln. Wenn das Dunkel die Lichtfülle mit einem Schlag wegwischt, um sie bald wieder neu und anders erstehen zu lassen.

Ich beschreibe die Fahrt nicht, denn es würde die Depressiven, die meinem Ratschlag folgen, um das Urerlebnis ihrer Befreiung vom Leiden bringen. Ein wenig Appetit möchte ich aber wecken und nenne darum eines der Elemente, wie es in seiner Vielgestalt an mir vorüberzog: Zürcher See, Zuger See, Vierwaldstätter See, Comer See, Lago Maggiore, Luganer See. Und ich schreibe nieder, worauf ich mich am Gotthard besann …

Und seid Ihr glücklich durch die Schreckensstraße,
Sendet der Berg nicht seine Windeswehen
Auf Euch herab von dem beeisten Joch,
So kommt Ihr auf die Brücke, welche stäubet.
Wenn sie nicht einbricht unter Eurer Schuld,
Wenn Ihr sie glücklich hinter euch gelassen,
So reißt ein schwarzes Felsentor sich auf –
Kein Tag hat’s noch erhellt – da geht ihr durch,
Es führt Euch in ein heitres Tal der Freude –
Doch schnellen Schritts müsst Ihr vorübereilen,
Ihr dürft nicht weilen, wo die Ruhe wohnt.
So immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen
Des Gotthards, wo die ewigen Seen sind,
Die von des Himmels Strömen selbst sich füllen.
Dort nehmt Ihr Abschied von der deutschen Erde,
Und muntern Laufs führt Euch ein anderer Strom
Ins Land Italien hinab, Euch das gelobte –

In Bellinzona, der vorletzten Station in der Schweiz, leerte sich der Zug, als sei es so verabredet gewesen. Da ich nicht wusste, wie es kommen würde, hatte ich mich eine Viertelstunde zu früh zum Speisewagen durchgedrängelt. Platz gab es kaum. Ich setzte mich gleich hinter dem Eingang an einen Tisch, an dem mir gegenüber ein Vater mit zwei kleinen Töchtern saß. Zwischen uns standen drei noch fast volle Cola-Flaschen. Wielange schon? fragte ich mich gleich darauf. Hätte ich mich an meine eigene Tochter und eine Autofahrt über den Julierpass im Engadin, als sie im gleichen Alter war, erinnern sollen? Kaum hatte ich bestellt, musste sich eines der Mädchen übergeben. Offenbar nicht zum ersten Mal, denn der Vater hielt ihr rasch eine Plastiktüte unter, die schon angefüllt war. Die attraktive Kellnerin, die nur italienisch sprach, hatte es  vorausgesehen, vielleicht hatte ich ihre Warnung nicht verstanden, jedenfalls packte sie mich am Arm und zog mich quer durch den Wagen bis ans andere Ende, wo noch ein Sitzplatz frei war. Ich mag keine diktatorische Fürsorglichkeit, am wenigsten von Frauen; aber ich verdanke ihr eine der schönsten Stunden meines Lebens. Denn wenige Minuten später waren der Zug leer und mein Blickfeld frei. Ich saß vor einer Spiegelwand und stellte fest, dass außer dem Vater mit seinen zwei Töchtern, die mir nun von weit weg hinten in den Rücken sahen, nur noch ein junges Pärchen an einem Tisch in der Mitte des Wagens saß. Allerdings kam jetzt die Mutter der beiden Kinder und erkundete sich nach dem Befinden des größeren Teils der Familie. Ihr Mann zuckte mit den Schultern. Sie verschwand rasch, wie sie gekommen war. Mir wurde klar: Ihr waren solche Szenen von früheren Reisen wohlvertraut. Sie hatte, damit sie ungestört ihren Apfel essen und das Modejournal lesen konnte, den Vater mit den Töchtern vorsorglich aus dem Abteil in den Speisewagen weggeschickt.

Auch ich genoss erneut die Welt. Ich aß meine Penne alla arabica, mischte sie in meiner Kehle mit kräftigem Abbruzzenwein. Als ich aufblickte und nur so vor mich hinsah, bemerkte ich, wie das Pärchen mit solcher Inbrunst aneinander sog, das mein Blick am Spiegel haften blieb. Ich dachte an die Hollywood-Filme aus der Zeit vor der sexuellen Revolution. Als Kinder hatten wir in der Jugendvorstellung ‚Aufhören‘ oder ‚Halbzeit‘ gerufen, wenn die Vereinigung des Helden mit seiner Angebeteten im Kuss kein Ende nehmen wollte. Das alte Hollywood mit allen seinen kussgeschulten Stars war nichts gegen die Orgie sich suchender, saugender Lippen, die sich mir darbot. Die beiden waren nicht schön, aber im schönsten Alter. Sie trugen Brillen, setzten sie nicht ab. Es machte sie erfinderisch, sich ‚dabei‘ nicht ‚daran‘ zu stoßen. Auch sonst berührten sie sich nicht, sondern legten alle Leidenschaft und Hingabe in Münder- und Zungenspiel. Ab und zu glitt ein Kuss aufs Ohr ab. Ein reiner, schöner Menschentraum. Ganz nahe.

Vielleicht wäre mir so viel Liebe, die ich mit keinem zudringlichen Blick störte, denn ich sah ja in die andere Richtung, und die beiden sahen und fühlten nur sich selbst, doch irgendwann zu viel geworden, so sehr ich lange in dem Bilde schwelgte. Zwanzig Minuten später war es vorbei. Der junge Mann stieg in Lugano aus. Er riss sich unvermittelt aus dem letzten langen Kuss und winkte beim Hinauseilen nach rückwärts – der Zug stand schon eine Weile, niemand stieg mehr aus. Sie trat ans Fenster. Beide winkten heftig und heftiger, bis kein Blick die Trennung mehr überbrückte. Sie setzte sich. Ihre Augen hatten noch den Glanz von eben, wurden sich aber ihrer Einsamkeit bewusst. Es klingelte in ihrer Tasche. Sie griff hinein, die Augen strahlten wieder auf. Dann war auch das vorbei. Sie starrte vor sich hin wie ich – und bemerkte plötzlich die unangerührte Schinkenplatte vor sich auf dem Tisch. Ein anderer Appetit kam in ihr auf. Sie schob mit der Gabel, wie geschäftlich schien es mir, Scheibe für Scheibe genüsslich in den Mund. Sie lächelte. Die Platte leerte sich im Nu, so schlang sie den Prosciutto runter; der Glanz in ihren Augen war erloschen. Sie telefonierte dann noch mehrmals, steckte zwischendurch ihren kleinen Dutt zurecht und putzte mit jeweils einem Zeigefingernagel die Fingernägel ihrer anderen Hand.

Als ich in Mailand aus dem Zug stieg, schlug mir schwüle Hitze entgegen, als sei ich in Bangkok gelandet. Fünfundvierzig Minuten Wartezeit im Trubel erwarteten mich. Ich wollte sinnen. Die taube Menge verschluckte mich.

Im Überall

Überall war Stadt: Ruhelose, fühlsame geballte Verlorenheit. Seit meiner Bewusstwerdung.

Also war ich rastlos auf der Suche. Die meisten suchten etwas Bestimmtes; ich etwas gänzlich Unbestimmtes. Wollte ich überhaupt finden? Ich hatte dem gänzlich Unbestimmten einen kurzen Namen gegeben, einen, der überall auf den Straßen als Wegweiser und in den Lüften  unsichtbar trällernd herumhuschte, der aber nirgendwo zu fixieren war: DU.

Ich trauerte und ich lachte über meine strebsame Suche. Das Leben ein Schaum! Entflogene Papageien fand ich auf Müllhalden krakelnd und schadenfroh krächzend, geheime Akten der Staatskanzlei, in Hinterhöfen zwischengelagert, Bordeaux-Wein aus dem Jahr 1879 in den Büroräumen einer stillgelegten Strumpffabrik. Nie fand ich DU. Wie sollte ich, da ich doch ICH war?

Aber ich wusste genau, dass mein hoffnungsfrohes Suchen vorbei war, als ich eines Tages vor einem verschlossenen Palais in der Jasomirgottstraße stand. Ich hatte ES wider alles Erwarten gefunden. Mein Hoffen auf Finden war dahin. Da war ES. Nichts ist genugtuender, als ständig unerfüllte Hoffnung lebendig mit sich zu tragen. Sie erstarb; denn in diesem Gemäuer war mein DU zu finden, wurdest DU vor mir versteckt und gefangen gehalten. Ich roch gänzlich Unbestimmtes durch Schlüsselloch und Fensterritzen.

Falsche Schlüssel, Dietriche hatte ich genug. Schnell war die schwere, eisenbeschlagene Holztür geöffnet. Ich trat in ein klitzekleines, schmuckloses Vestibül und bemerkte, dass die Fenster dem Haus nur aufgesetzt waren. Kein Sonnenstrahl drang durch sie jemals in das Rauminnere. Bleiches Licht fiel von den Wänden aus hellblauen und fadgelben Neonröhren; flackerndes, huschendes Licht warfen einige im Boden einer Betonplattform verankerte ewige Abfackeln. Die Plattform ragte aus der Mitte des einzigen großen Raum im Palais empor, eine geometrische Insel inmitten weißer Pampe, es mochte Gips, es mochte Pudding, es mochte Kaffeesahne sein, aus der einige Menschenköpfe hervorlugten. Sie mussten lebenden Menschen zugehören, denn ihre Augen drückten Empfindung aus. Aber sie bewegten sich nicht, verharrten steif glotzend

In der Mitte der Betoninsel saßt DU. Ohne größere Bewegung, stillatmend. Mit einem anhaltend verhaltenen schelmischen Lächeln. Mein unbestimmtes Suchen gerann sofort ins Wirkliche. Ich suchte die Schelmin, die stete Schelmin. Aber sie war eine Gefangene. Saß still, versteinert nackt zwischen fahlem und flackerndem Licht auf einer Betonplattform inmitten weißer, undefinierbarer Pampe, aus der es offenbar kein Entrinnen gab, steckte man einmal darinnen.

Keine Tür sperrte das klitzekleine Vestibül ab vom Hauptraum mit der Pampe und der Betoninsel darin. Deshalb hatte ich das gesamte Innere des Hauses zugleich mit dem Blick erfassen können. Die Flüssigkeit reichte bis an den bunt gefliesten Boden des Vestibüls. Ich trat soweit wie möglich an den Rand der letzten Fliesen heran, um mein DU deutlicher zu sehen, als ein scharfer Luftzug die Stille zerschnitt. Eine riesige Säbelwand sauste Millimeter vor meiner Nase herunter. Mir war gerade so, als hätte sie einen Fetzen Haut der Nasenspitze mitgerissen. Sie verschwand in der weißen Pampe, um rasch wieder an ihren Platz im Dachgebälk emporzuschnellen. Meine Kleidung, mein Gesicht war mit Gipsspritzern übersät.

Eine meiner Schuhspitzen war wohl um ein Geringes zu weit nach vorn geraten, hatte den Mechanismus ausgelöst, und so waren vom Schuh etwas überstehende Sohle, Naht und sogar ein Stück Oberleder abgetrennt worden. Der Schuh war nun vorne offen, eine Art Sandale, aber meine Zehen waren unversehrt geblieben.

DU lächelstest weiter ruhig und schelmisch. Was sollte ich tun? Ich opferte den leicht beschädigten Schuh. Stets das Gleiche: Sobald ich ihn nach vorne streckte, fuhr rasselnd die Säbelwand nieder und zurück, schnitt ein Stück ab. Beeilte ich mich, vermochte ich den Schuh schnell genug vor dem Auftreffen der sausenden Säbelwand zurückziehen. Es gab also eine Möglichkeit, zum DU zu gelangen: Ich musste mit kräftigem Schwung auf einem der aus der Pampe ragenden Köpfe landen, um mit einem weiteren Satz, vom Schwung getragen, auf die Plattform zu gelangen. Es musste in einem Zuge gehen, der Kopf durfte nur als Sprungbrett zum sofortigen Weiterschnellen dienen.

Ich wagte es. Verfügte über drei Schritte Anlauf. Mein rechter Fuß traf tatsächlich den Menschenschädel, den ich angepeilt hatte. Fand flüchtig Halt. Die Säbelwand rauschte hinter mir nieder, das Genick, welches den Kopf trug, auf den ich trat, brach unter kurzem, spitzem Schrei knirschend weg. Der Kopf versank in der milchigen Pampe, nachdem er mir genug Widerstand geboten hatte, um den linken Fuß auf die Betoninsel zu setzen.

Keuchend vor Angst löste ich dich, mein DU, aus der Hockstellung, in der DU bisher reglos verharrt hattest, und drückte DICH DU an mich, um DICH zu erwärmen. DU wandest dich um mich wie eine Schlange, schluchztest heftig. Ohne Zeitgefühl sogen wir Lebensströme voneinander ein, ließen unsere Adern aneinander pochen, unser Blut ineinander fließen, unsere Gedanken und Träume miteinander schwingen und schweifen.

Sehr langsam, kaum spürbar, überkam es uns, nicht in diesem Walfischbauch zu bleiben. Gab es ein Heraus? Es ragten noch einige Köpfe aus der Pampe. Sie bellten jetzt von Zeit zu Zeit, schnappten wild in die Luft.Verloren waren sie allemal. Also waren wir schuldlos. Ich sah meinem DU in die Augen. Fragte, wirst DU es schaffen? Alles mit dir, spöttelte ES zurück. Dann springen wir zusammen. Wir müssen völlig im Gleichklang fliegen, sonst zerspaltet den Nachzügler die Säbelwand. Wir nahmen uns bei der Hand, rannten, sprangen, traten, wie mit einem einzigen Bein, auf zwei nah beieinander stehende Köpfe, spürten den Widerstand, der spitzig schreiend wegbrach, flogen weiter, landeten auf unseren zerrissenen Häuten, während die Säbelwand herunterschlug.

Schweratmend fanden wir uns umschlungen in weichen Daunen eines gewissen Alltags wieder statt auf den harten Fliesen eines Operationssaales.

Überall war Stadt. Rastlose, fühlsam geballte Verlorenheit. Überall rief es nach DU. Ich schaue auf die Uhr: Halb Drei. Erneut eine unruhige Nacht. Du warst schon wieder eingeschlafen. In vier Stunden wird der Wecker klingeln. Ich werde mich innerlich und äußerlich reinigen und aufbrechen. Wie oft werde ich meinen Namen nennen und auf irgendeine Art und Weise „Hier!“ sagen? Ein abstrahlendes kleines Du im Hinterkopf.

Kein Suchen. Ungewolltes Warten. Zugeteilter Ertrag.

Kleiner Spaziergang am Genfer See

Die schmutzigste Phantasie reichte nicht aus, sich den Parc Barton anders vorzustellen, als er ist: So sauber und gepflegt, dass jeder beim Eintritt sogleich schuldbewusst an Versäumnisse bei der Morgentoilette denkt. Selbst ein Dritter Weltkrieg risse hier keine Blüte vom Strauch. Jeder Krieger, jedes Geschoss erschräke, solche Reinheit zu zerstören. Hier frevelt kein Anarchist, kein Penner wagt sich auf die Bänke, kein Schulkind verliert ein Bonbonpapier.

Felix Helvetia. Aber irgendwie weckt selbst das Unglück anderer den Neid. Den Neid des verschonten Erlebnislosen. Er will zum Kollektiv gehören; anstandshalber, und sei’s ein wenig, teilhaben am großen Weltschmerz, den sich die Staatengemeinschaft regelmäßig durch Kriege auferlegt, während man selbst abseits steht. So gibt es in dieser Zivilisationsoase wie überall sonst in Europa ein Denkmal, auf dem der Soldaten gedacht wird, die in den Jahren 1914-1918 und 1939-1945 im Dienst fürs Vaterland gestorben sind. Aus Pietät wagt man nicht zu fragen, wieviele Schweizer es wohl gewesen sein mögen und auf welche Weise es überhaupt geschah.

Verborgen in diesem einzig schmucken Park schlägt ganz diskret das schnöde Herz der Globalisierung. Hier steht das Gebäude, von dem aus die Welt dirigiert wird: Ein farbloser mittelgroßer Bau mit kleinem Eckturm. Ein paar nachgemachte antike Vasen auf dem Sims sowie, kaum sichtbar, drei Grazien als Wandrelief schmücken ihn. Es ist der Sitz der Welthandelsorganisation. Sie  öffnet mit der sanften Gewalt des Fortschritts unabänderlich die Märkte aller Kontinente. An Ruhe fehlt’s den Mitarbeitern für ihren Arbeitseifer nicht. Früher saß in dem Gebäude die Weltarbeitsorganisation. Schutz der Arbeitnehmer aller Länder war ihre Aufgabe. Wohin ist sie ausgewichen? Denn es gibt sie natürlich noch. Irgendwo anders hier in Genf. An einem weniger erlesenen Platz.

Mancher wird unbewusst Prophet. Aus dem Jahre 1921 stammt die Skulptur von Jean Vibert „La Terre“. Um die aufgesprengte Schale der Erde krümmen sich sitzend Mann, Frau und Kind. Umklammern, selber Ball, den Erdball. Der Künstler wollte sagen, die Erde ist unser, lasst uns also menschlich und wie eine Familie sein. Uns Heutige erschreckt das gutgemeinte Werk. All unsere Menschlichkeit nützt uns nicht mehr: Wir erdrosseln durch unsere schiere Masse den Planeten. Und machten wir ihn rundherum zum Park wie hier.

Ich schlendere weiter.

Glücksuche

Der Diplom-Ingenieur Karl-Eckbert Wellmann hat Augen, die springen hell wie Quellwasser in die Welt. Er will sich gerne selbständig machen; geht deswegen in eine größere Filiale der Deutschen Bank und beantragt im Rahmen des Programms „Innovative Kreativität“ zu Sonderkonditionen mit staatlicher Förderung einen Kredit von 1,5 Millionen DM (746.000 EURO) für das, wie folgt, beschriebene Vorhaben:

Ich habe errechnet und an mir selbst durch akkurate Messungen praktisch erprobt, dass es möglich ist, wenngleich zunächst nur masturbativ, aber spätere kopulative  Formen sind keineswegs ausgeschlossen und damit bald zu erwarten, mit Hilfe eines speziell ausgelegten Anzugs einen sexuell normal konstituierten und veranlagten Mann, gewiss ebenso eine entsprechende Frau im freien Fall innerhalb von anderthalb Minuten in einen orgasmusartigen Zustand der Euphorie zu versetzen. Bei einer Absprunghöhe von knapp 5.000 Metern bedeutet dies, dass der Zustand mit Hilfe bestimmter Beschleunigungshemmer bei ca. 500 Metern erreicht wird. Es steht dem Benutzer dann frei, entweder durch Reißen der Fallschirmleine in diesem Zustand glückselig zur ihm den Mutterschoss öffnenden Erde zurück zu baumeln oder unmittelbar in solcher Art Verzückung den Tod zu suchen und sogleich zu finden.

Ich überreiche eine Aufstellung über die benötigten Rohstoffe und Gerätschaften sowie den gedachten Produktions- und Dienstleistungsstandort. Ferner die jeweils erforderlichen finanziellen und sachlichen Aufwendungen sowie das benötigte Personal.

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